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Darwin’sche Finken suchen (3)

Dank der Vermittlung von Heike treffe ich in Berlin Klaus Sander. Er “ist” der Hörbuch-Verlag supposé in Berlin, der in erster Linie erzählte Wissenschaft und Originalaufnahmen von Koriphäen wie Heinz von Foerster oder Konrad Lorenz herausgibt. Erstere entstehen aus Gesprächen, die Sander mit Wissenschaftlern  aller Disziplinen führt. Sein Interesse liegt weniger auf dem Inhalt, als auf  der Form, der Methode. Es geht um die gesprochene Sprache.

Ich renne vom Treffen direkt zum Zug, den ich bloß noch erwische, weil er Verspätung hat. Dann habe ich schon das meiste vergessen. Ich hatte eine ganze Reihe Fragen und Notizen. Ein Aufnahmegerät. Weder noch kam zum Einsatz. Ich ärgere mich, weil ich mich frage, was ich ihn überhaupt gefragt habe (meinem Gedächtnis zufolge nichts) und nicht nach prüfen kann, über was wir gesprochen haben. Ich schreibe trotzdem etwas auf.

Der Vorspung, den das geschriebene Wort vor dem gesprochenen hat, ist genauso sein Defizit. Der Fortschritt, den es gegenüber dem gesprochenen Wort darstellt, schafft ein Feld von Möglichkeiten (Linearität, Fixierung, Exaktheit, Veri-/Falsifizierbarkeit). Jedes Feld schließt aber auch Möglichkeiten aus. Das gesprochene Wort schweift aus, besetzt oder besitzt eine Räumlichkeit, die der Linearität der Schrift abgeht.

Die Worte sagen und sich verflüchtigen hören (aber auch ihr Echo). Vielleicht ist das Gedicht noch am nächsten am gesprochenen Wort: das Wort, das fordert, gesprochen zu werden. Und wenn das so ist, dann liegen Welten zwischen ihnen.

Das Gedankemexperiment als Grundlage, die selbst keine Grundlage braucht: supposé que… Das Axiom als Ausgangspunkt für etwas. So wie es die Mathematik tut, oder die Logik.So wie es Luhmann für seine Systemtheorie tut und genau so Louis Bec für seine Systeme: Etwas wird gesetzt und daraus kann dies, das und jenes werde, eine Vielfalt an Möglichkeiten entsteht aus einer einzigen Setzung.

“Es ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung, daß der Schöpfer den Keim des Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und daß, während sich unsere Erde nach den Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht.”
[Charles Darwin „Die Entstehung der Arten“, erschienen 1859, herausgegeben 1963 von Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, S.678 ]

Dieser Schlusssatz von Darwins “Entstehung der Arten” kann als Beschwichtigung der religiösen Kollegen und Politiker Darwins gelesen werden; Darwin selbst war kein religiöser Mensch. Das würde seiner Tragweite aber nicht gerecht, denn was er sagt, ist, dass es nur einmal etwas geben musste damit die ganze Welt und unzählige andere möglich wurden.

Auf Start.
Was ist „Darwin’sche Finken suchen“?

Exemplare suchen. Jedes für sich betrachtete ergibt wenig Sinn. Wie auch, wenn es auf unserem Seziertisch liegt, abgetrennt von der Welt, aus der es stammt. Diese Welt ist in erster Linie seine Verwandtschaft (von wo stammt es ab? das erklärt einiges…) und dann sein Lebensraum (wo stammt es her?), der genauso Voraussetzungen bedeutet oder besser: beides sind Wechselwirkungen, Beziehungen.

“Gelehrte Naturforscher beschreiben diese Szenen der Tropen, indem sie eine Vielzahl von Gegenständen benennen und von jedem ein charakteristisches Merkmal anführen. Dem gelehrten Reisenden mag dies klare Vorstellungen mitteilen: Doch wer sonst kann sich, wenn er ein Herbarium sieht, ihr Erscheinungsbild vorstellen, wenn sie in heimischer Erde wächst?”
[Charles Darwin „Die Fahrt der Beagle“ (1839), marebuchverlag, Hamburg, 2009, S. 644]

Und dennoch: So sehr wir die Dinge auch sezieren, sie faktisch oder durch unsere Begriffe der Welt entreißen: Das Exemplar ist das einzelne, das für alle anderen steht. Es trägt seine Verwandten in sich ganau so wie seinen Lebensraum. Jedes einzelne steht exemplarisch für alles andere. Jedes Ding trägt die Welt in sich.

„Die Offenheit, die Freundlichkeit der Leere besagt auch, daß das jeweilige Seiende nicht nur >in< der Welt ist, sondern in seinem Grunde die Welt ist, in seiner Tiefenschicht die anderen Dinge atmet oder diesen Aufenthaltsräume bereitet. So wohnt in dem einen Ding die ganze Welt.“
[Byung-Chul Han „Philisophie des Zen-Buddhismus“, Philipp Reclam jun. GmbH 6 Co. KG, Stuttgart, 2002, S.52]

Das Zen-buddhistische Denken, aus der diese Auffassung her stammt, ist im Gegesatz zum westlichen kein „Substanz-Denken“. Das “Substanz-Denken” trifft Unterscheidungen und trennt Dinge voneinander ab. Es schafft das Außen und das Innen, das Ich und das andere (das nicht-Ich, die Welt, die durch das Ich definiert wird). Im Zen-Buddhismus versteifen sich die Dinge nicht auf sich. Grob formuliert wäre die Erleuchtung, das Ich aufzugeben, die Unterscheidungen zwischen den Dingen zunichte zu machen (das Nein), um schließlich zu den Dingen zurück zu kehren, sie in ihrer jeweiligen Gestalt zu akzeptieren (das Ja).

„Als wir noch nicht erwacht waren, war der Berg nur Berg und der Fluß nur Fluß. Als wir aber durch die Übungen beim einsichtigen Meister ein einziges Mal jäh erwachten, war der Berg nicht mehr der Berg, und war der Fluß nicht Fluß, war die Weide nicht grün und die Blume nicht rot. Schreiten wir aber weiter auf dem Wege des Aufganges und gelangen hier in >den Grund und Ursprung<, dann ist der Berg durchaus Berg, ist der Fluß durchaus Fluß, ist die Weide grün und die Blume rot.“
[„Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte, erl. Von Daizohkutsu R. Ohutsu, übersetzt von Kôichi Tsushimura und Hatrmut Buchner, Pfulligen 1958, S. 117]

Was hat das mit meiner Arbeit zu tun?

Darwin legt in „Die Entstehung der Arten“ dar, wie die Varietäten, die Gattungen und schließlich die Arten alle Abstufungen ein und des selben Phänomens sind – der Verwandtschaft:

„Es ist sehr leicht möglich, daß Formen, die jetzt allgemein für bloße Varietäten gelten, später eines Artnamens für würdig befunden werden, in welchem Falle dann die wissenschaftliche Sprache mit der Volkssprache übereinstimmen wird. […] wir werden wenigstens von dem vergeblichen Suchen nach dem bis heute unentdeckten und wohl auch unentdeckbaren Wesen „Art“ gefreit sein.“
[Charles Darwin „Die Entstehung der Arten“, erschienen 1859, Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 1963, S. 673]

Die Trennungen, die zwischen den „Arten“ bestehen, sind sprachlicher Natur.
Eine Loslösung von den Kategorien, wie Darwin sie in Bezug auf die “Arten” fordert, wäre eine Loslösung von den Unterscheidungen. Es wäre die apokalyptisch anmutende Szene, die Nietzsche in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ beschreibt:

“Was thaten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?“
[Friedrich Nietzsche “Die Fröhliche Wissenschaft”, erschienen 1882, herausgegeben von Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 2000, S. 141]

Das Stürzen in den leeren Raum ist als Möglichkeit zu verstehen. Es entspricht einer Loslösung von den Fixpunkten (“Sonnen”), um die wir uns drehen, also den Positionen und Theorien, die die Welt in eine Umlaufbahn bringen, die nicht die der Welt ist, sondern die unserer Theorien. Der Welt ist keine Umlaufbahn eigen, nicht mal eine Richtung. Sie ist der leere Raum des Zen, der „eher zerstreut als >gesammelt<“ ist [Byung-Chul Han „Philisophie des Zen-Buddhismus“, Philipp Reclam jun. GmbH 6 Co. KG, Stuttgart, 2002, S.61] und die Vielgestaltigkeit der Phänomenalität bedeutet.

Unser beschränkter Horizont ist es, der nach Fixpunkten und Erklärungen schreit und von uns die Formalisierung der Welt fordert:

„>Erklärung< nennen wir’s: aber >Beschreibung< ist es […]. Wir operieren mit lauter Dingen, die es nicht giebt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theilbaren Räumen -, wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde!“
[Friedrich Nietzsche “Die Fröhliche Wissenschaft”, erschienen 1882, herausgegeben von Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 2000, S. 132f]

Der „leere Raum“  allein könnte eine Erklärung der Welt sein – indem er die Welt ist.

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